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Migräneprophylaxe mit der sinCephalea App
Hans Selye, der „Vater der Stressforschung“, erkannte vor 80 Jahren folgendes Paradox: Unser Körper aktiviert durch Stress nicht nur physiologische Systeme, die ihn schützen, sondern auch solche, die ihn schädigen. Kann so auch Migräne durch Stress entstehen?
Um dem auf den Grund zu gehen, haben die Forscher Peter Sterling und Joseph Eyer vor 30 Jahren ein Konzept entwickelt, das heute die moderne Stressforschung dominiert. Im Raum stand damals die Frage: Wie hält sich der Körper trotz wechselnder Situationen, von stressigen zu entspannenden, in einem körperlich-mentalen Gleichgewicht?
Peter Sterling und Joseph Eyer sahen die Lösung in einer Analogie zur Homöostase und nannten dies Allostase. Dieses Konzept der Allostase wurde dann von dem renommierten Stressforscher Bruce McEwen in den letzten 30 Jahren prägend weiterentwickelt und auch auf Migräne angewandt.
Migräne durch Stress: Homöostase & Allostase
Die Homöostase beschreibt, wie der Körper seine Temperatur reguliert und trotz wechselnder Umweltbedingungen recht konstant bei 36°C hält. Wie das menschliche Verhalten reguliert und zum Beispiel in einer Problemsituation die passende Handlungsbereitschaft entwickelt wird, beschreibt hingegen die Allostase.
Die Homöostase bezieht sich allein auf biologische Zustände des Körpers – neben der Körpertemperatur wären hier der Blutdruck oder das elektrische Membranpotential einer einzelnen Körperzelle zu nennen. Bei der Allostase berücksichtigt man zusätzlich zu all diesen physiologischen Zuständen noch das Mentale. Denn das Gehirn – nein, der Mensch – muss Stress ja erst mal als solchen wahrnehmen. Hier liegt die Crux. Diese Wahrnehmung wird nicht allein durch physiologische Faktoren beeinflusst, sondern auch durch individuelle Erfahrungen und das eigene Verhalten.
Stress verschleißt das Gehirn bei Migräne
Ein Beispiel: Ob wir mit erhöhtem Herzschlag und Blutdruck auf ein Problem reagieren, ist eine Frage der Allostase, nicht allein der Homöostase. Neben der physiologischen Reaktion nimmt auch die Verhaltensreaktion Einfluss. Bei wiederholtem Stress kommt es zur Anpassung. Diese Anpassung kann, wie der Vater der Stressforschung erkannte, den Körper schützen oder schädigen. Eine chronische Überbelastung schädigt den Organismus und diese Art der Verschleißerscheinung nennt Bruce McEwen die allostatische Last.
Was trägt zum Verschleiß des Gehirns bei?
Im Laufe der Zeit sammelt sich bei Migräne die allostatische Last nicht allein durch wiederkehrende Schmerzattacken an. Viele weitere Faktoren spielen zusammen. Die durch die Migränewelle (Cortical Spreading Depression genannt) ausgelösten Lichtblitze, Seh- und Wahrnehmungsstörungen während einer Migräneaura, erhöhen die allostatische Last genauso wie Störungen im Schlafverhalten oder Licht-, Geruchs- und Lärmempfindlichkeit in der Vorbotenphase.
Entnommen aus Ref. [2] (open access). Copyright © 2012 Elsevier Inc.
Die allostatische Last verändert langfristig Gehirnstrukturen über verschiedene neuronale Mediatoren, Hormone und – wie wir neuerdings wissen – auch über das Immunsystem. Damit verringert sich die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und das Migränegehirn nähert sich einem Kipppunkt.
Vielleicht kennt man die Bezeichnung, dass ein Gewässer umkippen kann oder das Klima. Aber das Gehirn? Ja auch! Letztlich existieren in vielen komplexen Systemen solche Kipppunkte. In der Tat haben drei renommierte Forscher für Gewässerökologie, Klimaforschung und komplexe Systeme zusammen mit drei Kopfschmerzexperten ein Kipppunktmodell der Migräne entwickelt. Mit der Bezeichnung „Kipppunkt im Gehirn“ meinen wir, dass der Zustand durch die allostatische Last getrieben von der schmerzfreien Zeit recht plötzlich hinüber in die Kopfschmerzphase der Migräne „kippt“.
Wobei ich das „plötzlich“ noch mal relativieren will. Der Schmerz setzt recht abrupt bei einer Attacke ein. Die Attacke selbst kündigt sich hingegen oft schon lange vorher an. Denn bevor dieser Kipppunkt erreicht ist, treten im ganzen Körper große Schwankungen auf. Wie das geschieht, erklärt genau das Modell. Diese Schwankungen betreffen physiologische, hormonelle und emotionale Veränderungen und äußern sich für Betroffene durch verschiedene Vorboten. In dieser Phase niedriger Resilienz ist man für Auslöser besonders empfindlich.
Neuere Studien konnten zeigen, dass unser Energiestoffwechsel und besonders stark schwankende Blutzuckerreaktionen eine Rolle bei der Entstehung von Migräne-Attacken spielen1-4. Leidet das Gehirn unter Energiemangel, besteht die Gefahr, dass es in den Migräneanfall kippt. Maßnahmen, die den Energiestoffwechsel stabilisieren wie z.B. regelmäßige Mahlzeiten oder eine Ernährung, die den Blutzucker eher niedrig-stabil hält, sollten daher im Mittelpunkt der Therapie stehen5. Es wurde nachgewiesen, dass sie eine effektive Migräneprophylaxe sind6-8.
Unsere digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) sinCephalea Migräneprophylaxe möchte dir bei dieser Form der nicht-medikamentösen Migränevorbeugung helfen. Du kannst mit der App auf Rezept herausfinden, welche Lebensmittel und Mahlzeiten deinen Blutzucker eher niedrig-stabil halten und diese bevorzugt konsumieren – und so effektiv Migräneattacken vorbeugen. Du kannst dir die Migräne-App sinCephalea von Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen oder über die Videosprechstunde bei dem Telemedizin-Anbieter TeleClinic verschreiben lassen.
Bruce McEwen konnte nun etwas Erschreckendes zeigen, nämlich dass der Hippocampus mit zunehmender Anzahl der Attacken schrumpft und es im Zusammenspiel mit anderen Hirnregionen zu einer Fehlregulierung kommt. Damit liegt die Vermutung nahe, dass das Gehirn immer anfälliger für ein Umkippen wird. Denn der Hippocampus ist eine zentrale Schaltstation des limbischen Systems, die an der Verarbeitung von Stress beteiligt ist. Und nicht nur dabei. Auch an der emotionalen Einfärbung von Schmerz ist der Hippocampus beteiligt, sodass ein Teufelskreis entstehen kann.
Migräne durch Stress: Was hilft?
Die entscheidende Frage ist, ob diese Vorgänge rückgängig gemacht werden können.
Soll man Stress nun vermeiden? Das hieße ja, allein zu viel Stress ist schlecht für den Verlauf der Migräne-Erkrankung. Leider behaupten das viele Ratgeber. Dies scheint aber genau das Falsche zu sein.
Denn auch zu wenig Stress kann schlecht sein und Bruce McEwen bezieht sich hier auf das Yerkes-Dodson-Gesetz. Bei Unterforderung fällt das nervöse Erregungsniveau so weit ab, dass man zu wenig Antrieb verspürt und dieser Mangel an Mobilisierung wieder schädigend sein kann. Damit erklärt er, dass der „Sweet Spot“ in der Mitte liegt.
Bruce McEwen gibt auch drei konkrete Handlungsweisen:
- regelmäßiger Sport treiben,
- Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction – MBSR) und
- Unterstützung bei Familie, Freunden und Kollegen suchen, und damit einen ausgeglichenen Gemütszustand ermöglichen.
Das sind für ihn die richtigen Wege der Intervention. Das heißt, Stress nicht einfach passiv meiden, sondern aktiv begegnen. Das geht beispielsweise durch Entspannungsübungen und moderatem Ausdauersport. Klinische Studien zeigen, dass Betroffene durch solche Therapiemethoden ihre Schmerz-Attacken und -Intensitäten um bis zu 45% verringern können.
FAQ Migräne durch Stress
Wie beeinflusst Stress Migräne?
Stress gilt als häufigster Auslöser von Migräne-Attacken. Oft ist jedoch nicht der Stress an sich der relevante Einflussfaktor, sondern die Änderung des Stressniveaus – also von Entspannung zu Stress oder von Stress zu Entspannung. Eine Verringerung dieses Niveau-Unterschieds durch Therapiemethoden wie Progressive Muskelrelaxation ist deshalb durchaus sinnvoll und Teil der nicht-medikamentösen Therapie.
Quellen
- Bernecker C. et al. (2011): Oxidative stress is associated with migraine and migraine-related metabolic risk in females. In: European Journal of Neurology, 18(10), S.1233-9.
- Gruber, H.-J. et al. (2010): Hyperinsulinaemia in Migraineurs Is Associated with Nitric Oxide Stress. In: Cephalalgia30 (5), S. 593–98. https://doi.org/10.1111/j.1468-2982.2009.02012.x.
- Siva, Z.O. et al. (2018): Determinants of Glucose Metabolism and the Role of NPY in the Progression of Insulin Resistance in Chronic Migraine. In: Cephalalgia38 (11), S. 1773–81. https://doi.org/10.1177/0333102417748928.
- Yilmaz, N. et al. (2011): Impaired Oxidative Balance and Association of Blood Glucose, Insulin and HOMA-IR Index in Migraine. In: Biochem. Med., 21, S. 145–151.
- Del Moro, L. et al. (2022): Migraine, Brain Glucose Metabolism and the „Neuroenergetic“ Hypothesis: A Scoping Review. In: J Pain., 23(8), S. 1294-1317. doi: 10.1016/j.jpain.2022.02.006.
- Bongiovanni, D. et al. (2021): Effectiveness of Ketogenic Diet in Treatment of Patients with Refractory Chronic Migraine. In: Neurol Sci, doi:10.1007/s10072-021-05078-5.
- Evcili, G. et al. (2018): Early and long period follow-up results of low glycemic index diet for migraine prophylaxis. In: Agri.30(1), S. 8-11. doi: 10.5505/agri.2017.62443.
- Razeghi, J. S. et al. (2019): Association of diet and headache. In: Journal of Headache and Pain, 20(1), S. 106. doi:10.1186/s10194-019-1057-1.